Im Norden Deutschlands, von Ostfriesland bis zum Oderbruch, waren Häuser und Höfe, die sich mit Runenmarken schmückten, keine Seltenheit. Eine Rune neben einem Seepferdchen ziert seit 1998 das Ortswappen der Insel Hiddensee; die Inselverwaltung sucht damit in verdienstvoller Weise das häusliche Runen-Dekor besonders zu pflegen. Auch auf Rügen, Usedom, auf der Insel Oie und noch im Küstengebiet des vorpommerschen Festlandes, z.B. in Stralsund, Greifswald, Wolgast, Lodmannshagen und Lubmin, war früher der Umgang mit Haus-Runen nachweisbar.
Wenige wissen indes, dass die Haus- und Hofmarken verkörpernden Runen alte bäuerliche Rechtsdenkmäler darstellen; im Mittelalter übten sie wichtige eigentumsrechtliche Funktionen aus. Rechtshistorische Spurensuche hatte zum Ergebnis, dass sich dieses Rechtsbrauchtum sogar in noch ältere Zeiten zurückverfolgen lässt. Schon in germanischer Zeit, später auch im deutschen Stammesrecht, wurde persönliches Eigentum an Grund und Boden durch Handzeichen, u.a. durch Runen gekennzeichnet, die meist am Firstbalken der Häuser oder Höfe eingeritzt waren (sog. Handgemal). Die wie ein auf der Schwanzflosse stehender Fisch aussehende Rune stand zum Beispiel für den Begriff des ungeteilten und unteilbaren Stammeseigentums, das sog. Odal. Die Germanen glaubten, dass die Rune, abgeleitet vom althochdeutschen Wort „runa“ = „raunen“, magische Kräfte verlieh. Am First als Sippenzeichen war die Rune Symbol für ein friedvoll umhegtes Hauswesen, das seinen Bewohnern Schutz und Geborgenheit vermittelte.
Im Laufe der Zeit gewannen die bäuerlichen Haus- und Hofmarken eine immer nachhaltigere juristische Bedeutung. Sie kennzeichneten nicht nur Haus- und Hofbesitz, sondern markierten, in Grenzsteinen eingraviert, auch Eigentumsgrenzen in der Ackerflur. Sie wurden zudem Eigentumszeichen für Fahrnis (z.B. Ackergeräte, Werkzeuge, Wagen und Boote). Aus letztgenannter Funktion wurde eine wichtige prozessuale Beweisregel abgeleitet: Hatte ein Hofbesitzer eine bewegliche Sache freiwillig aus der Hand gegeben und gelangte sie danach in den Besitz eines Dritten, so konnte der Eigentümer die Sache klageweise nur dann herausfordern, wenn sie seine Hausmarke trug.
Auf germanische Gewohnheiten geht im übrigen der bäuerliche Rechtsbrauch zurück, nicht nur die jährliche Fruchtfolge auf Ackerparzellen, sondern auch jährlich die Nutzung „gemeiner“, d.h. allen Dorfgenossen gemeinsam gehörender Feldmarken (sog. Allmende, später im deutschen Stammesrecht auch als „Hufe“ bezeichnet) durch Verlosung zu verteilen. Als Lose wurden dabei Holzstäbchen oder Holzplättchen (lat. festuca/fistuca, althochdeutsch: Kaveln) benutzt, in die die Hausmarken der nutzungsberechtigten ortsansässigen Hof- und Haushaltungen eingeritzt wurden. Das Losverfahren war eine uralte germanische Sitte, von der schon Tacitus in seiner im Jahre 98 n. Chr. entstandenen Schrift „Germania“ (genauer Titel: „Über den Ursprung und die geographische Lage der Germanen“) berichtete, dass dabei aus dem Zweig eines fruchttragenden Baumes Losstäbchen (lat. surculus) geschnitten wurden, die mit „Zeichen“ (lat. nota) versehen wurden.
Diese Entwicklung führte dazu, dass Haus- und Hofmarken nicht mehr nur persönliches Einzeleigentum kennzeichneten, sondern sich sogar vorwiegend auf familiäres Stammesgut bezogen hatte, und zwar mit der Folge, dass die Haus- und Hofmarken mit dem Hofanwesen meist unverändert als familiäre Urzeichen auf die jeweils ältesten Söhne übergingen, während die weichenden Erben für eigene Stämme dem Urzeichen sog. Beizeichen (Sparren/ Sprossen/Striche/Zacken/ Fußabstreben, u.a.m.) hinzufügten. Das machte für die Dorfgenossen den Grad der Verwandtschaft zu dem den Urstamm fortsetzenden Hoferben kenntlich. Hieraus erklärt sich die große Mannigfaltigkeit der Haus- und Hofmarken. Diese Praxis im Umgang mit Hofmarken ebnete später die Wege zu den Erbhofgesetzgebungen im deutschen Recht. Die vermehrte Verbreitung von Haus- und Hofmarken hatte schließlich zur Folge, dass die Zeichen oft auch Unterschriften der Hofbesitzer in Urkunden ersetzten, die mit der begleitenden Unterschrift der Urkundsbeamten als genehmigt und damit rechtsverbindlich galten.
Holzstäbchen mit Eigentümerzeichen fanden gelegentlich als Investiturzeichen anlässlich der Übergabe von Hofgütern im Falle eines Verkaufs Verwendung. Diese Verfahrensweise förderte im deutschen Rechtskreis den, übrigens schon im Römischen Recht bekannten, Rechtsdualismus bei der Übertragung von Grundbesitz, nämlich die Aufteilung in das rechtliche Grundgeschäft (den Verkauf) einerseits und in den dinglichen Übertragungsakt andererseits. Letzterer vollzog sich in früheren Zeiten durch faktische, symbolhafte Besitzübertragung (lat. investitura), z.B. in Gestalt der Übergabe einer Erdscholle oder eines Strauches an den Erwerber seitens des Veräußerers, und zwar tunlichst in Gegenwart von Zeugen. Überliefert ist, dass der Besitzwechsel auch durch symbolisches Verlassen („Verlassung“) des Grundstücks an Ort und Stelle durch den Veräußerer erfolgte. In neuerer Zeit beschränkte sich dann der dingliche Übertragungsakt nur auf eine bloße schriftliche „Auflassung“ in gerichtlicher oder notarieller Urkundsform.
Runen waren übrigens nicht nur an Häusern als Eigentumszeichen der lebenden Generation angebracht; sie dienten auch als Namens- und/oder Sippenzeichen auf Grabsteinen verstorbener Haus- oder Hofeigentümer (so z.B. Grabzeichen: Marienkirche Greifswald). Wir verdanken die Kenntnis über den Gebrauch von Haus- und Hofmarken den profunden Studien des aus Wolgast stammenden Berliner Rechtsprofessors Carl Gustav Homeyer, der die Ergebnisse seiner Forschungen in dem Buch veröffentlicht hat: „Die Haus- und Hofmarken, Berlin 1890; R. v. Deckers’s Verlag“. Die hier abgebildeten Runen sind diesem Werk (aus den Tafeln XX und XXI) zitatweise entnommen.
Runen wurden im übrigen in der norddeutschen Region noch für andere, freilich den Hausmarken verwandte Zwecke gebraucht. Sie waren Urheberzeichen im weitesten Sinne, z.B. Architekten- und/oder Maurerzeichen an bemerkenswerten Bauwerken. Das trifft vermutlich für die Runenzeichen an den Pfeilern im Hauptschiff der Stralsunder Nikolaikirche zu.
Regelrechte Wimmelbildflächen eingeritzter Runenzeichen finden sich an der Mittelsäule (Mittelpfeiler) der Gertraudenkapelle in Wolgast. Leider verschwanden diese alten Runenzeichen anlässlich der Verputzung des Mittelpfeilers. Die Runenfelder werden jetzt wieder freigelegt. So weit der Putz entfernt wurde (bis heute ca. 1/3 der Gesamtfläche), sind die freigelegten Runenfelder allerdings noch nicht gesäubert (Stand: Januar 2003), so dass die eingeritzten Runen nur undeutlich abfotografiert werden konnten (die Fotos auf diesenSeiten stammen aus dem Jahr 2009 – d. Red.). - Es kann nur vermutet werden, aus welchen Anlässen und zu welchen Zwecken diese Runen hier eingeritzt wurden. Die Gertraudenkapelle, errichtet um 1400, war offenbar eine Herbergskapelle gewesen, die von Reisenden aufgesucht wurde (vgl. N. Buske, Kirchen in Wolgast, Ev. Verlagsanstalt GmbH, Berlin 1984). Es liegt deshalb nahe, dass die eingeritzten Runen als Namenszeichen von Herbergsgästen stammten, zumal in früheren Jahrhunderten die Menschen vielfach des Schreibens unkundig waren und ihre Namen in Gestalt von Zeichen (z.B. Runen) kenntlich machten. Diese Deutung würde auch die auffallende Vielzahl von Runen-Namen erklären.
Adrian Bueckling (†)
Erstabdruck in USEDOM exclusiv, Sommerausgabe 2003
Foto: © Museum Wolgast