Der Wald der Wisente

Wisente Insel USedom Wisente im Urwald von Białowieża

Der Autor Dirk Weichbrodt betreut im Auftrag des NABU das Wisentgehege auf der Insel Usedom. Hier vermittelt er - mit dem Wisent als verbindendes Element - Eindrücke von einer Naturregion, die noch heute an die natürlichen Bedingungen erinnert, die einst auch auf der Insel Usedom herrschten.

Es gibt Orte, denen geht der Ruf voraus, etwas Besonderes zu sein. Sie sind von einer eigenen Aura umgeben, rufen besondere Assoziationen und Gefühle hervor. Der Urwald von Białowieża, im Osten von Polen, ist so ein Ort. Wer sich der Natur verbunden fühlt, sich für die Tier- und Pflanzenwelt begeistert, wird irgendwann auf den Namen dieses Waldes stoßen. Auf Deutsch „Bialowieser Urwald“, auf russisch „Belaweschskaja Puschtscha“, bezeichnet der Name eine Landschaft, die in Europa einmalig ist. Durchschnitten von der polnisch-weißrussischen Grenze, liegt hier in der europäischen Tiefebene der letzte Urwald Europas.

Ein Waldgebiet wie ein Monument, von beinahe 1.500 km² Fläche. Er erstreckt sich fast 50 Kilometer lang von Ost nach West, von Nord nach Süd. Ein Wald, ähnlich dem, der noch vor 1000 Jahren fast ganz Deutschland und weite Teile Europas bedeckte. Ein Wald, in dem es Gebiete gibt, in denen wohl noch nie Axt oder Säge zu hören waren. Ein Wald mit einer Artenvielfalt, die schier unglaublich ist – verglichen mit dem, was wir aus unseren Forsten kennen.

Dieser Wald ist so groß und dicht, dass in ihm ein eigenes Klima herrscht. Wenn man im Sommer aus der Hitze der weiten Ebenen Ostpolens in das Waldgebiet kommt, gerät man in ein kühl-feuchtes Halbdunkel, in eine tiefgrüne Dämmerung, in der der Blick nach wenigen Metern im Dickicht des Waldes stecken bleibt. Dieser Wald hat nichts mit dem gemein, was wir landläufig unter „Wald“ verstehen. Ganze Waldgebiete bestehen hier aus mehrhundertjährigen Eichen, die bis zu 45 Meter hoch sind. Dazwischen stehen Fichten, die mehr als 50 Meter Höhe erreichen. Kiefern mit Stämmen, wie man sie bei uns nie sehen wird, weil sie lange, bevor sie dieses Alter erreichen, gefällt werden. Birke, Ahorn und Linde runden das Bild. Die Rotbuche findet man hier nicht mehr, sie erreicht etwa 100 km nordwestlich des Urwaldes ihre natürliche Verbreitungsgrenze.

Ganze vier Dörfer liegen in dem Waldgebiet, das allein auf polnischer Seite doppelt so groß wie die Insel Usedom ist. Dieser Wald beeindruckt jeden, der Herz und Augen für die Natur öffnet. Eben noch in der technisierten Zivilisation, steht man überwältigt in einem Waldmeer, dessen Ausmaße nicht zu übersehen sind.

Die Fülle der hier vorkommenden Arten ist einzigartig. Über 1.000 Gefäßpflanzen, davon 26 wild vorkommende Baumarten, mehr als 200 Moose und über 280 Flechten wurden bestimmt. Dies dürfte der artenreichste Wald Europas sein, übertroffen wohl nur von den Nordhängen des Kaukasus. Mehr als 8.000 Insektenarten wurden nachgewiesen. Hier leben Schreiadler und Auerhuhn, Blauracke und Wiedehopf. Es ist die Heimat von Schneehase und Biber, Wolf und Luchs, von Elch und Rothirsch und - des Wisents!

Geografisch betrachtet, liegt dieser letzte Urwald mitten in Europa, im Zentrum des europäischen Kontinents. Lässt man die politische, und darum falsche, Einteilung Europas in Ost und West einmal außer Acht, gehört das Gebiet also immer noch zu Mitteleuropa.

Fast genau 1000 Straßenkilometer von der Insel Usedom entfernt, ist es eine Tagesreise quer durch Polen, bis man Hajnόwka, die Ortschaft am Westrand des Urwaldes erreicht. Von dort sind es dann noch 17 Kilometer bis Białowieża im Herzen des Waldes, gelegen unmittelbar an der Grenze zu Weißrussland. Schon 60 - 80 Kilometer zuvor bemerkt man in den Ortschaften erste Holzhäuser, die allmählich immer zahlreicher werden. Immer öfter fallen die „Zwiebeltürme“ der orthodoxen Kirchen auf, die den Dörfern ein für uns ungewohntes Gesicht geben. Der rote Backstein, der noch im alten Ostpreußen die Dörfer prägt, ist hier fast völlig verschwunden.

Über Europa hinaus bekannt wurde dieser Wald aber durch den Wisent, dessen letzte Freistatt sich lange Zeit hier befand. Heute ist Białowieża das Zentrum für Forschung und Zucht des größten europäischen Säugetiers. Der erste Wisentbulle, der im Jahre 2004 als Stammvater der Usedomer Wisente auf unsere Insel kam, stammt aus dem Urwald von Białowieża. Das Internationale Zuchtbuch des Wisents wird hier geführt. Seitdem in der Mellenthiner Heide auf Usedom Wisente stehen, gibt es deshalb regelmäßigen Kontakt zu den Wissenschaftlern, die im Nationalpark und im Forschungszentrum arbeiten.

Die Geschichte des Urwaldes ist eng mit der deutsch-polnisch-russischen Geschichte verknüpft. Und fast immer spielte der Wisent dabei eine wichtige Rolle. Das polnisch-litauische Heer hat sich aus dem Wildreichtum des Waldes verpflegt, als es 1410 gegen den Deutschen Orden ins Feld zog. Die Sachsenkönige, die im 18. Jahrhundert auch Polen regiert haben, jagten im Urwald. Der Wisent stand als Jagdwild der Könige unter ihrem Schutz, auf Wilderei standen strenge Strafen, unter den Zaren drohte sogar Verbannung. Die polnischen Könige hielten hier ihre Hofjagden ab. Seit der dritten Teilung Polens, von 1795 bis zum Ende des 1. Weltkrieges, gehörte der Wald zum Russischen Reich. Die Zarin Katharina verschenkte Teile des Waldes an ihre Offiziere, 400 km² wurden gerodet. Um 1850 erreichte der Wisentbestand im Urwald mit fast 1900 Tieren seinen Höchststand. Dies war zuviel für den Wald und den Tierbestand, Seuchen brachen aus, denen viele Wisente zum Opfer fielen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Wald zum persönlichen Jagdrevier des Zaren erklärt. In der kleinen Siedlung Białowieża wurden das Jagdschloss und Häuser für die Angestellten errichtet. Durch den Wald schlug man eine Bahnlinie, für die Anreise des russischen Regenten und seiner Bediensteten. 1913 besuchte Zar Nikolaus zum letzten Mal sein Jagdrevier, kurz vor Ausbruch des Krieges. Von 1914-1918 war der Urwald unter deutscher Besatzung. Die Militärforstverwaltung ließ in dieser kurzen Zeit rund 5 Millionen Festmeter Holz schlagen, ein Aderlass für den Wald, dessen Spuren man bis heute sieht.

Für die Wisente waren Krieg und die Wirren der Nachkriegszeit eine Katastrophe. Der Bestand brach unter den Kugeln von Soldaten und Wilderern zusammen. Am 12. April 1919 wurde der letzte frei lebende Wisent des Urwalds gewildert! Erst 1929 kamen wieder Wisente in das neue Zuchtgatter in Białowieża zurück. Den 2. Weltkrieg überlebten nur 17 Tiere. Die deutschen Truppen hatten vor ihrem Rückzug die Gattertore geöffnet, damit die Waldrinder nicht so leicht den Kugeln der Wilderer zum Opfer fielen wie 25 Jahre zuvor.

Im Jahre 1952 konnten die ersten Wisente wieder im Urwald freigelassen werden. Das größte Wildtier Europas war in seine Heimat zurückgekehrt! Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Wald geteilt. Stalin zog die neue Grenze mitten durch das Waldgebiet. Der größere Ostteil kam zu Weißrussland, der etwas kleinere Westteil zu Polen. Schon seit 1921 werden große Teile des Waldes auf polnischer Seite faktisch als Nationalpark behandelt. Das Schutzgebiet umfasst heute etwa 10.500 Hektar. Auch der weißrussische Teil ist inzwischen zum Nationalpark erklärt worden.

Über Jahrzehnte war der Urwald ein Geheimtipp für Naturfreunde. 1991, bei unserem ersten Besuch, gab es in Białowieża noch nicht einmal einen Zeltplatz. Inzwischen wurde der Geheimtipp zum Touristenmagneten. Die Besucher können heute unter vier Hotels, mehreren Pensionen und verschiedenen Privatquartieren wählen.
„Ihr müsst im Winter zu uns kommen, im Januar oder Februar, dann könnt Ihr die Wisente sehen!“ Die Worte des alten Wisentwärters Roman Wolkowyczy aus dem Herbst 2004 waren uns noch in Erinnerung. Im November 2008 fragten wir im Nationalpark „Bialowieser Urwald“ an, wann wohl der beste Termin wäre, freilebende Wisente zu beobachten.

Schon wenige Tage darauf erhielten wir eine Einladung der Direktion des Nationalparks, im Februar nach Białowieża zu kommen. Es wäre kein Problem, die Wisente an den Futterplätzen zu sehen, ortskundige Mitarbeiter des Nationalparkes würden uns begleiten. Białowieża im Winter, Wisente in freier Natur? Es klang zu verlockend, den letzten Urwald Mitteleuropas tief verschneit zu erleben, dazu noch Wisente, frei lebend, in einer Zahl, wie sie in Europa nur noch dort zu sehen sind. Inzwischen leben im polnischen Teil des Waldes nämlich wieder 450 Wisente, auf weißrussischer Seite etwa 500. Das ist fast ein Drittel aller Wisente weltweit!

Aber der Winter 2008/ 09 machte seit Mitte Januar Pause. Der erste Schnee war getaut, der strenge Frost von Anfang Januar war Temperaturen um 0°C gewichen. Erst am 10. Februar begann wieder der Flockenwirbel. Der Februar ist im Osten immer der Schneemonat, in Pommern ebenso wie in Masowien. Bei der Ankunft im Urwald von Białowieża schneite es ununterbrochen. In der Verwaltung des Nationalparks erwartete man uns bereits. Ein ortskundiger Forstmann sollte uns mit dem Geländewagen zu den Futterplätzen bringen, an denen mit Sicherheit Wisente stehen würden. Aber an diesem ersten Morgen waren wir zu spät an der Futterstelle. Nur noch ein einzelner Wisentbulle stand zwischen den alten Fichten und zog sich bei unserer Annäherung langsam zurück, Distanz 200 Meter. Zweiter Versuch, am nächsten Morgen. Jerzy, unser Begleiter, empfing uns mit unzufriedenem Gesicht: „Im Wald sind Leute vom Fernsehen unterwegs, die werden schon alles verscheucht haben.“ Und tatsächlich, ein Fahrzeug des Bayerischen Fernsehens kam uns schon entgegen, allerdings auch erfolglos, wie wir erfuhren. Wir folgten den Spuren, die das Fahrzeug im Schnee hinterlassen hatte, und bogen an einer Weggabelung zur anderen Seite ab. Vorsichtig näherte sich das Fahrzeug einer anderen Futterstelle. „Żubry!“ (Wisente) Jerzy wies auf das Dickicht hinter den Futterraufen. Mehrer dunkle Umrisse zogen sich langsam, aber stetig ins Unterholz zurück. 11 Tiere waren es, die jedoch in der Deckung des Waldes blieben. „Heute ist Freitag“, meinte er dann, „wir versuchen es noch mal am Montag, wenn wieder Heu in den Wald gebracht wird“.

Am Montagmorgen um 8.00 waren wir zurück im Wald. Drei Waldarbeiter brachten Heu auf eine Waldwiese, einer von ihnen stand laut rufend am Waldrand. „Wartet nur, wartet“, halblaut sprach Jerzy vor sich hin und musterte mit dem Feldstecher den Wald. Plötzlich, nach 10 Minuten, hob er die Hand und wies auf den Fichtenbestand links neben uns. Zwischen den hohen Stämmen bewegte sich ein dunkler Schatten. Ihm folgten weitere. Der erste Wisent näherte sich dem Waldrand, prüfend hielt er immer wieder inne, bevor er den schützenden Wald verließ. Die anderen folgten mit wenigen Metern Abstand. Einige Minuten später standen die ersten Wisente auf freier Fläche und senkten ihre zottigen Köpfe ins Heu. Nun wurde der Wald lebendig. Im leichten Trab kamen weitere Wisente aus der Dickung, Jungtiere folgten den Älteren mit übermütigen Sprüngen. Immer mehr Tiere traten auf die Waldwiese. Wir waren sprachlos. Unser Begleiter freute sich über unser Staunen. Nach einer halben Stunde waren fast 70 Wisente am Futterplatz versammelt, Tiere jeden Alters, vom ausgewachsenen Bullen bis zum Kalb. Auf 60 Meter Entfernung stand uns eine Tierart gegenüber, die noch vor einigen Jahrzehnten weltweit fast ausgerottet war. Ein Erlebnis, wie es in ganz Europa nur im Urwald von Białowieża möglich ist. Ein Eindruck, der diese Landschaft unvergesslich macht. Ein Moment, in dem man die ewige Kraft der Natur spürt.

Text: Dirk Weichbrodt

Foto: © A. Weichbrodt

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